Patriot
Auf der Frankfurter Buchmesse fiel mir das Buch „PATRIOT – Meine Geschichte“ von Alexej Nawalny auf. Es war in erster Linie das Cover, das mich ansprach, weniger der Titel. Patriot ist so ein Wort, auf das ich nicht gut reagiere. Und dann noch in All-Caps 😉
Tatsächlich interessierte mich aber die Geschichte von Nawalny und die Inhaltsangabe war ja auch vielversprechend:
Nawalny begann mit der Arbeit an PATRIOT im Jahr 2020, kurz nach dem Giftanschlag auf ihn. Es ist die umfassende Geschichte seines Lebens: seine Jugend, seine Berufung zum Aktivisten, seine Ehe und Familie sowie sein Einsatz für Demokratie und Freiheit in Russland angesichts einer Supermacht, die ihn unbedingt zum Schweigen bringen will. PATRIOT zeigt Nawalnys absolute Überzeugung: Der Wandel ist nicht aufzuhalten. Er wird kommen.
Anschaulich und mit spannenden Details, einschließlich bislang unveröffentlichter Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, schildert Nawalny seinen politischen Werdegang, die zahlreichen Anschläge auf ihn und seine Vertrauten und die hartnäckigen Kampagnen, die er und sein Team gegen das zunehmend diktatorische Regime zu führen wagten.
Nawalnys Witwe, Julija Nawalnaja, sagt: “Dieses Buch ist nicht nur das Zeugnis von Alexejs Leben, sondern auch von seinem standhaften Kampf gegen die Diktatur – ein Kampf, für den er alles gab, einschließlich sein Leben. Die Leser werden den Mann kennenlernen, den ich zutiefst geliebt habe – einen Mann von umfassender Integrität und unbeugsamem Mut. Seine Geschichte wird nicht nur sein Andenken ehren, sondern auch andere Menschen inspirieren, sich für das Richtige einzusetzen und nie die Werte aus den Augen zu verlieren, die wirklich zählen.”
Geschrieben mit der Leidenschaft, dem Esprit, der Aufrichtigkeit und dem Wagemut, für die er zu Recht bewundert wurde, ist PATRIOT Nawalnys Abschiedsbrief an die Welt: eine bewegende Darstellung seiner letzten Jahre, die er im brutalsten Gefängnis der Welt verbrachte, eine Mahnung, warum die Grundsätze der individuellen Freiheit so wichtig sind, und ein mitreißender Aufruf, das Werk fortzuführen, für das er sein Leben gab.
Das Buch wurde dann irgendwann geliefert und eines regnerischen Abends nahm ich es in die Hand und war nach einigen wenigen Seiten schon ziemlich sicher, dass es ein sehr gutes Buch ist. Dazu gehörte vor allem der lockere Schreibstil und die durchaus vertraut wirkende Art des Humors von Nawalny.
Dabei gliedert sich das Buch in zwei Teile, der Erste ist die autobiographische Erzählung, wie man sie in einem solchen Buch erwartet. Der zweite Teil besteht dann aber aus losen Tagesbucheinträgen, die er während seiner Gefangenschaft geschrieben hat.
Wir begleiten Nawalny dabei auf seinem Weg durch das politische Russland und das ist durchaus spannend für mich: Als jemand, der Russland nur oberflächlich kennt und die Nachrichten nur selektiv verfolgt, war es sehr spannend zu lesen, wie von Jelzin der Weg zu Putin führte, während Nawalny sich politisch ausprobierte und versuchte eine Heimat zu finden. Dabei geht er auch mit den gelegentlich angeführten Verbindungen ins rechte oder rechtsextreme Milieu offen um. Wobei fraglich ist, ob die Definition von Rechts identisch ist mit der, die wir haben.
Als nicht-russischer Leser erfährt man sehr viel über die innere Struktur dieses riesigen Landes, die Probleme die es während der UdSSR und in der Zeit danach hatte. Von gefühlter und verlorener Identität.
Nawalny selbst wirkt dabei stets lebenslustig, aber auch wissbegierig. Und manch ein eher lockerer Kommentar, wie z. B. dass die russischen Kommunisten viel konservativer als die amerikanischen Republikaner sind, lässt dann doch stutzen. Mehr als ein Mal muss man beim Lesen den politischen Wertekompass und die altbekannte Links – Mitte – Rechts – Aufteilung hinterfragen.
Das gesamte Buch über spürt man aber auch, wie der Kreml mehr und mehr sein Augenmerk auf Nawalny richtet. Die stoische Art, mit der er das ignoriert und auch die Lebensgefahr, in der er schwebt, in Kauf nimmt, weckt den Anschein, dass er vielleicht gar nicht in der Lage war, die Dramatik, die sich um sein Leben herum entwickelte, zu erfassen. Das ihm die Emotionen, die seine Mitmenschen, vor allem die Angst, gar nicht spürbar waren.
Die Beschreibungen des Unrechtsstaats sind dabei für mich am stärksten erschütternd gewesen. Wie in der deutschen Geschichte kann Unrecht Recht sein, weil es Gesetze gibt, die Unrecht zu legitimieren scheinen. Oder wenn scheinbar „gerechte“ Vorgänge, wie Gerichtsprozesse in sich eine Farce der Ungerechtigkeit sind.
Im Laufe der zweiten Hälfte des Buches wird Nawalny zunehmend gläubiger und wendet sich mehr und mehr auch der Religion zu. Ich habe mich beim Lesen gefragt, ob das Ausdruck einer Depression sein kann. Denn auch wenn seine Briefe und Tagebucheinträge stets Lebensbejahend sind, lässt er im Dunkeln, wie sehr er mit seinem baldigen Tode im Gefängnis rechnet. Nur an einer Stelle kommt das zum Vorschein, wird erwähnt und besprochen.
Und so kommt sein Tod dann auch eher überraschend. In Form des Endes der Tagebucheinträge. Ohne das noch einmal explizit erwähnt werden müsste, warum diese enden.
Das Nawalny über seinen Tod hinaus eine wichtige politische Figur ist, sieht man z. B. an den Kommentaren in Rezensionen bei Amazon:
„Ein widerliches Hetz-Pamphlet gegen Russland.„
oder:
„Ich kenne die Historie, spreche die Sprache ein wenig und wollte das Buch kaufen. Aber die Leseprobe rief ein ungutes Gefühl hervor: Hier sucht jemand die Aufmerksamkeit der Leser mit den ganz großen Geschossen. Es geht gleich mit dem Sterben los. Zum Glück habe ich in einer Buchhandlung noch mal in den rest des Buches reingeschaut: Und ich fand meinen Verdacht bestätigt. Autobiographie eines Menschen, der ausgezogen war, im politischen Haifischbecken den Ton anzugeben. Nun jammert er, dass er gefressen wurde. Grundsätzlich fehlt mir im Buch die Einordnung der Anekdoten in seine gesellschaftliche Realität. Daran hapert das ganze Buch: N. hatte sich mit zu Vielen im eigenen Land verkracht, und er hatte Kontakte in faschistoide Kreise. So jemand ist nirgends gern gesehen. Entsprechende Parteiverbote wären in D wohl noch viel vehementer umgesetzt worden. Kein Wort davon im Buch. Außer im Titel: „Patriot“ passt, wenn auch im pol. fragwürdigen Sinne. Selektive Geschichtswahrnehmung war vielleicht zu erwarten in einer Autobiografie, aber 28 Euro für Selbstinszenierung und Schuldvorwürfe?(…)“
Interessant ist, dass man als Leser eine Weile in einer unangenehmen Situation ist. Weil man, noch bevor man das Buch liest, weiß wie es enden wird. Dabei geht der Verlag hin und erwähnt das Sterben Nawalnys nur ein Mal wirklich. Und das ist in der Mitte des Buches.
Von daher kann man sagen: Das Buch endet nicht mit seinem Tod.
Es endet mit seinen letzten Worten, die er in ein Tagebuch schreibt. Die nach wie vor versuchen, den Optimismus beizubehalten, den der politisierte Nawalny im ersten Drittel entwickelt: Das egal, wie sehr sich Putin an ihm abarbeitet, das politische System nicht auf Dauer bestehen kann. Das es zwar um so schmerzhafter im Übergang sein wird, je länger es besteht. Das ein aus Lügen gebautes Konstrukt der Unterdrückung aber irgendwann zerbrechen wird.
Dabei ist ihm selbst bewusst, dass auch Diktaturen wie Nord-Korea und China weiter Bestand haben. Aber es ist halt kein Buch des Trauern, sondern eines das Hoffnung machen soll. Ob die sich erfüllt, wird der Lauf der Zeit zeigen.
Interessant ist neben der Politik noch seine Beschreibung der Oligarchen, die sich Russland im Namen des „Kapitalismus“ einverleibt haben. Hier gibt es starke Anlehnungen an die „neuen Oligarchen“, von denen zum Beispiel das Buch „End of Reality„ handelt. Dieses Buch habe ich zeitgleich gelesen und werde in ein paar Tagen darüber bloggen. Es ist aber bemerkenswert zu sehen, dass Politiker in Russland die gleichen Methoden verwendet haben, die man heute in Teilen der Republikaner wiedererkennen zu glauben scheint. Und das in der Folge eine wenige Menschen so reich werden, dass für sie eigene Regeln zu gelten scheinen und das sie einen nahezu unmessbaren Einfluss auf die Politik nehmen können.
Insofern ist das Buch auch ein Mahnmal, wie schnell demokratische Prozesse sterben können. Und auch, wenn man in den USA wohl keine russischen Zustände erwartet, ist es ratsam genau zu schauen, welche Spiele Russland spielt. Und das natürlich auch mit der EU und Deutschland.
War Nawalny jetzt ein guter Mensch?
Das kann ich nicht beurteilen.
Was man nach dem Lesen des Buches beurteilen kann ist, dass er tatsächlich ein Patriot im Sinne des Begriffes Patriotismus war. Ich kann von außen und nur nach dem Lesen des einen Buches auch nicht beurteilen, ob er Recht hatte in dem Sinne, dass er mit den zulässigen Mitteln ein System zu verändern wollte, dass in seinen Augen gegen die Menschen gerichtet war. Ich weiß aber nach dem Lesen, dass er so sehr davon überzeugt war, dass richtige für sein Land zu tun, dass er bereit war, dafür ins Gefängnis zu gehen und zu sterben.
Im Grunde hat er alles verloren. Gleichwohl hat Putin nicht gewonnen, denn der Tod im Gefängnis hat Nawalny zu einem Märtyrer werden lassen. Etwas, von dem ich glaube, dass es große Bedeutung für die Menschen in Russland haben kann.
Was daraus wird? Das werden wir sehen.
Mein Fazit:
Das Buch vermittelt einen spannenden Einblick in das Regime Putin und zeigt auf, was passiert, wenn Autokraten an den Macht kommen. Und was passiert, wenn im Namen des Geldes aus Recht Unrecht wird. Wer eine wirklich andere Biographie lesen möchte, als das übliche „ich bin ein toller Hecht“ ehemaliger Politiker und Stars und Sternchen, sollte das Buch lesen.
Fußnote: Spannend ist zu sehen, dass Nawalny stets betont, dass er nur ein Gesicht einer Bewegung ist. Nicht aber deren Wesen. Wie er stets versucht klar zu machen, dass er kein Einzelkämpfer ist, sondern Teil einer Bewegung. Was wiederum dann nichts Gutes für die übrigen Mitglieder seiner Bewegung annehmen lässt.
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