Der Tätowierer von Auschwitz: Die wahre Geschichte des Lale Sokolov

Im VBC wird diesen Monat das Buch „Der Tätowierer von Auschwitz: Die wahre Geschichte des Lale Sokolov“ von Heather Morris gelesen.

1942 wurde Lale Sokolov nach Auschwitz deportiert. Seine Aufgabe war es, Häftlingsnummern auf die Unterarme seiner Mitgefangenen zu tätowieren, jene Nummern, die später zu den eindringlichsten Mahnungen gegen das Vergessen gehören würden. Er nutzte seine besondere Rolle und kämpfte gegen die Unmenschlichkeit des Lagers, vielen rettete er das Leben.
Dann, eines Tages, tätowierte er den Arm eines jungen Mädchens – und verliebte sich auf den ersten Blick in Gita. Eine Liebesgeschichte begann, an deren Ende das Unglaubliche wahr werden sollte: Sie überlebten beide.

Eindringlich erzählt Heather Morris die bewegende, wahre Geschichte von Lale und Gita, die den Glauben an Mut, Liebe und Menschlichkeit nie verloren.

Das Buch macht mich ehrlich ratlos. Ich könnte es mir einfach machen und sagen: ich bin die falsche Zielgruppe – aber das wäre zu einfach, auch wenn es am Ende vermutlich stimmt. Aber das Problem geht tiefer und ich grüble seit gestern darüber, wie man es beschreiben könnte.

Erst dachte ich, es ist der Schreibstil. Es ist aber gar nicht so sehr wie sie schreibt als mehr was sie schreibt. Und ich glaube das Problem das ich habe ist: Ich bekomme es mit anderen mir bekannten Berichten von Augenzeugen nicht überein.

Das was es für mich so schwierig macht sind zwei Dinge:

Das Erste ist gar nicht so offensichtlich, aber ich habe das Gefühl, dass die Autorin – vielleicht unbewusst – einige Stereotype über Juden aus der Zeit des Nationalsozialismus in das Buch eingearbeitet hat. Unser Protagonist Lale ist Jude und als solcher im Buch verschlagen genug, um sich mit den richtigen Nazis und Kollaborateuren, den Russen und allen anderen zu verbünden, so dass es stets seinem Vorteil dient und so sammelt er mehrmals große Mengen an Wertgegenständen und Geld. Das erinnert fatal an die Vorurteile über die „reichen Wucherer„:

“ Die ökonomisch begründete Judenfeindschaft, in der die Juden als Wucherer, Betrüger, später als ausbeuterische Kapitalisten und Spekulanten gebrandmarkt wurden. Damit eng verbunden ist die Vorstellung von den Juden als einer mächtigen Gruppe, die mit ihrem Geld weltweit die Politik bestimmt. Hierher gehört das Stereotyp des „Drahtziehers“, der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung. „

Das Zweite ist die Konzentration auf die Liebesgeschichte. Damit diese wie beschrieben funktionieren kann, ist es notwendig, dass unser Protagonist stets die richtigen Leute um Gefallen bitten kann. Schon der Weg zu seinem Job als Tätowierer ist bemerkenswert, fast schon absurd mutet an, was er alles hat machen können ohne von den Nazis getötet zu werden. Das Buch ist sich dessen selbst bewußt und zitiert einen Nazi damit, dass er Lale mit einer Katze mit 9 Leben vergleicht, der mehr überlebe, als jeder andere:

Essen stehlen und verteilen? Kein Problem. Von Außerhalb Güter ins Lager schmuggeln? Kein Problem. Mit gestohlenen Reichtümern erwischt werden? Keine sofortige Erschießung. Folter um die Quelle der Reichtümer zu ermitteln? Kein Problem, man ist ja „Freund“ des Folterers. Der geliebten Frau einen Brief zukommen lassen? Kein Problem, man ist ja „Freund“ des Nazis, der zur eigenen Bewachung abgestellt ist. Dem Tode durch Arbeitsdienst entkommen? Kein Problem, die beste Freundin der Geliebten ist ja die Gespielin des Kommandanten und wird sich schon für einen einsetzen. Sex mit der Geliebten? Keinen Problem, für ein Stück Schokolade schauen alle weg.

Insgesamt kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass im KZ zu überleben ja im Grunde nur davon abhängig war, gute Geschäfte machen zu können und sich die richtigen Leute zu „Freunden“ zu machen. Ich setze das in Anführungszeichen, weil es nicht der richtige Begriff ist, denn es ist ja keine Freundschaft, mehr eine Zweckbeziehung: Lale kann alles organisieren, von Essen über Medikamente bis fast zu Nylonstrümpfe und wahlweise merkt es niemand (seine Bewacher) oder wissen es alle. Und so kommt er mehr oder  weniger gut durch die Zeit.

Das ist aber nicht alles. Die Morde an anderen Menschen werden eher gleichgültig beschrieben. Ich überlege mir wie ein Mensch reagiert, wenn vor seinem Auge zwei andere Menschen auf der Toilette aus Spaß erschossen werden. Geht man ins Bett und schläft? Kann man die mehrmalige Situation, mit der hohen Wahrscheinlichkeit des eigenen Todes konfrontiert zu sein, weg-stecken und zum Tagesgeschäft übergehen? Nimmt man den Ascheregen aus den Kreamatorien einfach hin?

Ich weiß nicht wie viel von dem, was ich hier gelesen habe, Realität ist und nicht der Tatsache geschuldet ist, eine Liebesgeschichte zu erzählen, die vermutlich eher Frauen als Leserinnen ansprechen soll. Ich weiß nur, dass die Art und Weise wie Lale durch die Zeit im KZ kommt, mir persönlich zu problemlos erscheint. Und das ich die Erzählung nicht mit dem Überein bekomme, was mir andere Augenzeugen vermitteln.

Richtig geärgert habe ich mich an den Stellen an denen durch blitzte, dass viele doch gar nicht gewusst hätten, was in den KZ passiert. Ich gehöre zu den Menschen die sich weigern zu glauben, dass es möglich ist eine Mordmaschinerie in dem Ausmaß zu betreiben, in dem es die Nazis taten, ohne das der Rest der Gesellschaft das mitbekommt.

Aber bitte nicht falsch verstehen: Ich will nicht bezweifeln, dass die Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht und das unsere Protagonisten mit Klugheit und Glück das Grauen des KZ überlebt haben. Ich habe nur den Eindruck, dass die wahren Ereignisse zu Gunsten einer eher seichten Erzählweise deutlich entschärft wurden. Was meiner Meinung nach ein erhebliches Risiko birgt, wenn man mit einer wahren Geschichte wirbt.

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