ENDLAND

2015

Im Jahr 2015 ist die sogenannte „Flüchtlingskrise“ praktisch auf ihrem Höhepunkt. Die Folge sind erhebliche politische Verwerfungen, auch in Deutschland. Ich selbst werde als „Gutmensch“ (was will man sonst sein? Schlechtmensch?) und „links-grün-versiffter Bahnhofsklatscher“ angegangen. Ein Witz im Vergleich zu dem, was die Menschen durchmachen, die zu uns kommen. Am Ende sind sich alle einig: „2015 darf sich nicht wiederholen.

Damals spielte sich, heute von den meisten vergessen, eine unfassbare Tragödie mitten in Europa ab: Bei dem Versuch, in ein sicheres Land zu gelangen, eine bessere Zukunft zu haben, starben 71 Menschen. Eingesperrt wie Tiere in einem viel zu kleinen Kühllaster. Darunter: 4 Kinder.

2019

Ich lese Timur Vernes „Die Hungrigen und die Satten“. Sein zweites Buch, dieses beschäftigt sich gnadenlos mit der Medienlandschaft, die die Flüchtlingskrise 2015 hervorgebracht hat. Seine bitterböse Abrechnung mit der Gesellschaft ist an manchen Stellen erheiternd. Bis am Ende praktisch alles sterben. Man verzeihe mir den „Spoiler“.

Ebenfalls 2019 werden die Schlepper, die den Tod der 71 Menschen zu verantworten hatten, zu langen Haftstrafen verurteilt. Das befriedigt, macht aber keinen wieder lebendig.

16.05.2020 – Abends

In meinem Stapel ungelesener Bücher bin ich bei „Endland“ von Martin Schäuble angekommen. Ein Buch von dem ich nicht den geringsten Schimmer habe, wo es her kommt. Oder warum ich es besitze. Ich fange an zu lesen.

17.05.2020 – spät Nachts.

Ich lege das Buch weg. Und bin völlig durch. Und Schuld ist dieser letzte kurze Textteil:

In diesem Buch wird die Flucht von 71 Flüchtlingen in einem Kühllaster beschrieben. Sie überleben diese Flucht nach Deutschland – in meinem Roman. In Wahrheit taten sie es nicht. Ihnen ist Endland gewidmet.

Fck.

FCK.

FCK. FCK. FCK!

Der junge Soldat Anton bewacht die Grenzmauer, die Deutschland umschließt. Er ist begeistert von der Nationalen Alternative, der neuen Regierungspartei, und vom Selbstbewusstsein seines Landes. Seinem besten Freund Noah dagegen ist diese Politik verhasst. Er ist weder für Atomkraft und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, noch findet er es richtig, dass Flüchtlingen kein Schutz geboten wird. Menschen wie Fana, die nach ihrer Flucht aus Äthiopien im letzten Flüchtlingslager Deutschlands auf Anton trifft und sich mit ihm anfreundet. Als Anton einen tödlichen Anschlag ausführen soll, ist er gezwungen, sich zu entscheiden: für eine nationale Ideologie oder für seine Freunde – und ein freies Leben.

Das Buch ist eine brutale Abrechnung mit einem Deutschland, wie es sein könnte, wenn die A*D an die Macht kommt. Und mehr oder weniger beiläufig eine Politik macht, die zu großen Teilen von der FDP beeinflusst scheint. Der Hashtag #afdp lässt grüßen.

Ich kann gar nicht sagen, was dieses Buch auf der einen Seite so gut macht, dass man es weiterlesen muss – und es auf der anderen Seite so grauenvoll macht, dass man froh ist, wenn es vorbei ist. Und das man froh ist, dass der Autor zumindest seiner Geschichte ein Happy End geschenkt hat.

Es ist vielleicht das Gefühl dabei zu sein, wenn er die Geschehnisse in Äthiopien beschreibt – weil diese wohl sehr gut recherchiert sind. Oder ist die mir innewohnende Wut, die ich Menschen gegenüber habe, die ein System, wie es die A*D propagiert, für „gut“ halten. Weil sie entweder dumm oder boshaft oder dumm und boshaft sind.

Ich kann es nicht sagen.

Was ich sagen kann: Wie für viele Schülerinnen und Schüler „Die Wolke ein wichtiges Buch ist, um zu begreifen, was für ein Risiko Atomkraft ist, ist „Endland für mich ein „must-read“ in der Schule. Um zu begreifen, wie dünn die Decke der Zivilisation ist. Und wie wichtig es ist, Parteien wie die A*D immer und immer wieder auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern.

Und natürlich denkt man beim Lesen an die „Flüchtlingskrise“ von 2014, 2015 und 2016. Und spätestens bei der Beschreibung des Lasters, mit dem Fana nach Deutschland kommt, fühlt man sich extrem unwohl. Aber man ist froh, dass am Ende Fana und ihre Mitreisenden überleben.

Und als dann die Gesellschaft zu begreifen beginnt, möchte man aufatmen. Man möchte sich freuen, dass selbst dann, wenn dieser Albtraum Wirklichkeit werden würde, ein Punkt käme, an dem ein neues Reich zusammenbrechen würde.

Bis zu dem letzten fucking Satz.

Und ja, das Schreibe ich auch als jemand, der in einer Stadt wohnt, deren Stadtrat zwei Mal hintereinander mehrheitlich abgelehnt hat, das eigene Zuhause zu einem sicheren Hafen zu machen. Jeder Politikerin und jedem Politiker, der/die mit Nein gestimmt hat, der oder die davon überzeugt war, so etwas wie ein deutliches Zeichen der Menschlichkeit wäre verzichtbar, sollte man dieses Buch schenken. Und ihn und sie dann zwingen, es Wort für Wort zu lesen.

Bis zu dem letzten fucking Satz.

 

 

 

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